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René Freudenthal, Menachem Kaiser und Doris Wolters © Daniela Himbert

„Nein, ich kannte meinen Großvater nicht. Ich habe keine emotionale Bindung zu ihm, außer dass es immer komisch ist, meinen Namen, den er auch trug, auf einem Grabstein zu lesen. Und nein, mein Buch ist kein Holocaust-Buch." Was ist Kajzer dann? Ein Memoir. Ein Genre, das Menachem Kaiser gar nicht mochte. So ein Buch wollte er nie schreiben. Wieso er es trotzdem tat, erzählte er im Gespräch mit René Freudenthal am 16.11.23 in der Buchhandung Rombach. 

Heiterkeit ohne eine Spur von Trauma

Menachem Kaiser ist ein heiterer, lustiger Mensch, aufgewachsen in Toronto, Kanada, in einem orthodox-jüdischen Umfeld. 80% der Großeltern seiner Freunde hatten in irgendeiner Form Holocaust-Erfahrungen. Trotzdem – oder gerade deswegen – interessierte ihn die Holocaust-Geschichte seiner gesamten Familie nicht sonderlich. Es wurde nie wirklich darüber gesprochen. Nur zwei mal im Jahr wurden schlimme Holocaust-Filme geschaut mit dem Anspruch: "So, und jetzt sei traurig."

Traumatische Erfahrung? Davon ist bei Menachem Kaiser nichts zu spüren: "I had no sense of trauma." Wieso er trotzdem einen Vertrag bei seinem Verleger für dieses Buch, ein Memoir, unterzeichnete, bevor er es überhaupt schrieb? "This story was so weird it wouldn’t have made any sense as a novel. People wouldn’t have believed it. But in a memoir, the narrative lives from my real-life mistakes." Ein ganzes Kapitel besteht z.B. aus einer Gerichtsanhörung, die Menachem (illegalerweise, "don’t tell anyone") mitschnitt. "I couldn’t do better than the recording." 

Es geht um Absurdes, Trauriges, Komisches, im Prozess um die Zurückgewinnung des Gebäudes im schlesischen Sosnowiec, in dem sein Großvater aufwuchs und das seinem Ur-Großvater gehörte. Was antwortete er auf die Frage des Richters "Sind Ihre Vorfahren wirklich tot?", wenn die gesamte Familie des Großvaters im Holocaust ermordet wurden?

Bei dem Gerichtsprozess unterstütze ihn "the killer" – eine Anwältin "between 80 and 120 years old", die die Gerichtsdokumente in Ordernern, übersät mit süßen, kleinen Katzenbildern, sammelte. Katzen hin oder her: Frustrierend war der Prozess trotzdem. Menachems Antwort darauf: Schreiben. "Writing is a superpower". Die Aktenberge in kryptischer Sprache (Polnisch), die sich im echten Leben wie ein Misthaufen anfühlen, sind für einen Autor wie Menachem Kaiser "great for the narrative". Apropos Narrativ. Ein "default narrative", mit dem er als orthodoxer Jude in Toronto aufwuchs, war: "The Poles are out to get you." In der Familie wurde nicht über das Leben der Vorfahren in Polen, über das (kulturelle) Erbe gesprochen – aber es war allgemein bekannt, dass die Polen schlimm waren, schlimmer als die Nazi-Deutschen sogar. (An dieser Stelle ist sich Menachem seiner deutschen Audienz sehr bewusst – seinen Humor verliert er trotzdem nicht.)

Narrative lassen sich dekonstruieren

Dass er dieses Narrativ "disassemblen" konnte, lag an den Scorpions.* Besser gesagt an ihrem Tourmanager, einem chassidischen Juden, den er während seiner Zeit als Fullbright-Stipendiat in Litauen kennenlernte und der ihn nach Polen einlud. Dort begegneten ihm dann nicht nur sehr zugewandte, offene Menschen, die ihn in seiner Quest, das Gebäude seines Großvaters zurückzugewinnen, unterstützen, sondern auch zwei Schatzsucher, die sich intensiv im schlesischen Eulengebirge mit dem heute weitgehend unbekannten Nazi-Großprojekt Projekt Riese beschäftigten. Ein Projekt, an dem Abraham Kajzer, ein Cousin von Menachems Großvater, als Zwangsarbeiter mitwirken musste, und worüber er später ein Memoir geschrieben hatte. Das brachte ihm den Status einer lokalen Celebrity ein.  

Menachem beschreibt, wie er von der Existenz dieses Cousins erfuhr, der den Krieg überlebte, und wie die Schatzsucher ihn für den Enkel Abraham Kajzers hielten. Er stellte zwar klar "I am not his grandson. My grandfather was his cousin so that makes me – I don't know what exactly." Das ließ die Schatzsucher unbeeindruckt. Sie schauten ihn bloß an, schoben ihm Abrahams Buch, das nur auf Polnisch vorliegt, hin mit der Bitte um sein Autogramm und bestimmten: "You’re his grandson." Geschichtsverwischung vom Feinsten. Gleichwohl sind die Schatzsucher, deren Tätigkeiten Menachem durchaus kritisch-humorvoll beäugt, die einzigen, die solche vernebelten Orte, die keine institutionellen Ressourcen wie die bekannteren Gedenkstätten erhalten, ins öffentliche Bewusstsein rufen.

Diese Orte gibt es wirklich!

Bewusstsein schaffen – das war u.a. auch Menachems Motivation, das Buch Kajzer zu schreiben. Gerade den amerikanischen Juden wollte er Zugang zu einem geographischen Ort geben, die oft nur in mythologischen Orten denken – und alles darüber wissen: über die Leidensgeschichte, über die Verbrechen der Nazis, über Tod und Verderben und Auslöschung. Dass diese Orte wirklich existieren, auch heute noch, gerät bei vielen in Vergessenheit.

Es ist ein vielschichtiges Buch, "es ist komplex", wie Menachem selbst auf Deutsch sagt, und schelmisch dabei grinst, das seine eigene "wild and rich legacy" erkundet, das Vermächtnis der Familie Kajzer, wie der Nachname auf Polnisch korrekt lautet – und der auch der Titel der deutschen Ausgabe ist.

Die amerikanischen Verleger waren allerdings der Überzeugung, dass das kein Mensch richtig aussprechen könnte. Stattdessen heißt das Buch im Original Plunder. Was genau geplündert wird, darüber lässt sich diskutieren – bloß eine weitere Überlebendengeschichte? Der sagenhafte Goldzug im Eulengebirge? Oder die ganze Bandbreite aus heiterer Tiefsinnigkeit und viel Humor, die einem kanadisch-amerikanischen Autor wie Menachem Kaiser zur Verfügung steht in der Erzählung seiner unerforschten Familiengeschichte.

* Im Publikum saß eine Frau, die ihren Mann verwirrt fragte: "Wer oder was ist das?" Ich gebe die Antwort des Mannes hier wieder: "Eine Musikgruppe". Alles Weitere können Sie selbst recherchieren.

Über Menachem Kaiser

Menachem Kaiser wuchs in Toronto auf, studierte Kreatives Schreiben an der University of Michigan und hatte ein Fulbright-Stipendium in Vilnius, Litauen. Heute arbeitet er als Autor u. a. für den New Yorker, das Wall Street Journal und The Atlantic. Er lebt in Brooklyn, New York. Für die englische Originalausgabe Plunder, sein erstes Buch, erhielt er 2022 den Sami Rohr Prize for Jewish Literature.

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